Beginn der NS-Zeit oder: die Grünen Blätter

Aus den sinstorfer Kindheitserinnerungen der 7jährigen Margarete-Anna-Maria Freytag, deren Vater der Pastor Freytag von Sinstorf war. Diese historischen Aufzeichnungen erstellte später die erwachsene Margarete-Anna-Maria vor ihrem Tode und wurden uns nun von Ihrer Tochter für beiSins.de zur Veröffentlichung gestellt. Wir danken sehr für diese Überlieferungen und lebendigen Einsichten der kleinen Margarete-Anna-Maria. Es folgt ein Auszug aus dem Original:

"Nach der Beschreibung meiner schönen Kindheitserinnerungen gehe ich zeitlich jetzt wieder bis an das Ende des Jahres 1932 zurück, denn parallel zu unseren sorglosen Kinderspielen gab es Ereignisse auf anderer Ebene, deren Hintergründe ich nicht verstehen konnte. Das regelmäßige, ungestörte Leben im Pfarrhaus [von Sinstorf] sollte sich ändern, doch von allen Begebenheiten, die jetzt folgen, kann ich nur aus der Sicht eines Kindes berichten. Der Winter stand vor der Tür, und ich spürte bei meinen Eltern eine gewisse Besorgnis und Unruhe. Hing das vielleicht mit der Post zusammen?

Von Zeit zu Zeit kam nämlich ein Brief mit der Post, den meine Mutter umgehend an sich nahm, und bevor sie damit zu meinem Vater in das Studierzimmer eilte, schloß sie die Haustür ab. Ich war jetzt sieben Jahre alt und lauschte dann neugierig an der Zimmertür, nahm jedoch nur ein leises Gemurmel wahr. Doch einmal klang die Stimme meiner Mutter erregt und wurde für einen Moment etwas lauter, und ich fing einige unzusammenhängende Wortfetzen auf. „…katastrophale… wenn Adolf Hitler ans Ruder kommt!“ Das erste Wort kannte ich nicht und fragte mich dann weiter, ob dieser Adolf, so wie wir drei Geschwister, vielleicht auch einmal mit dem Boot über den Außenmühlenteich rudern möchte. Ich hörte jetzt, daß meine Mutter aufgestanden war, und wich von der Tür. Also sie aus dem Zimmer trat, hielt sie mehrere grüne Bogen in der Hand, die eng mit der Schreibmaschine beschrieben waren. Sie eilte damit über den Flur, ging in die Küche, hob den Teekessel [von der Kochhexe] hoch und warf die Blätter ins Feuer, so daß sie hell aufflammten. (Bei den „Grünen Blättern“ handelte es sich um anti-nationalsozialistische Schriften).

Zeitschrift NS ZeitDie Weihnachtsferien waren zu Ende und schon ein paar Wochen des neuen Jahres 1933 vergangen, als ich in der Schule die Zeitschrift „HILF MIT“ erhielt und heimbrachte. Die fettgedruckte Überschrift auf der Titelseite hieß in etwa: „Reichspräsident von Hindenburg hat Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.“ Das Foto, das die ganze Seite einnahm, zeigte den Händedruck zwischen dem Reichspräsidenten von Hindenburg und Adolf Hitler. Als meine Mutter die Zeitschrift sah, wurde ihr Blick besorgt, und sie sagte zu meinem Vater: „Jetzt schieben sie sogar noch den alten Hindenburg vor.“

Zeitdokument NS ZeitGroße Aufregung verspürte ich im Haus, als Handzettel mit dem Aufdruck „Wir sind für Adolf Hitler“ verteilt wurden. Sie sollten, wie uns der Nazibonze und Dorfschmied erklärte, an einem bestimmten Abend gut sichtbar innen an das Fenster geklebt werden. Meine Mutter legte die Zettel aber mit der bedruckten Seite nach unten auf die Fensterbank, so daß es von außen so aussah, als wäre er gerade von der Fensterscheibe abgefallen. Ich erfuhr durch ein erregtes Gespräch zwischen meinen Eltern, daß uns der Schmied von diesem Zeitpunkt an auf die schwarze Liste der Kommunisten gesetzt hatte, aber ich dachte mir nichts Böses dabei und wunderte nicht über die Aufregung meiner Eltern.

Sie sprachen jetzt viel über politische Ereignisse, die mich gar nicht interessierten. Ich wollte nur spielen und lief fröhlich zu Gertrud, aber sie mußte noch eine Weile für die Klavierstunde bei der beliebten Pianistin Eva Mügge üben. Deshalb ging ich solange in die Gaststube des Großvaters und sah mir die Bilder in den Illustrierten an. Ich mußte lachen, weil in einer von ihnen die Karikatur des deutschen Michels abgebildet war. Seine Schlafmütze war weit über Augen und Ohren gezogen, und er schließ fest und friedlich. Auf der Zeichnung darunter war er gerade aufgewacht. Seine nach hinten gerutschte Zipfelmütze ließ jetzt die Augen frei. Sie waren vor Schreck weit aufgerissen, als er merkte, daß sein Mund mit einem großen Vorhängeschloß abgeschlossen war. Den tieferen Sinn dieser Zeichnung verstand ich natürlich noch nicht. (Die Zeitschrift „Der Simplizissimus“ erschien nie wieder. Das Ende der freien deutschen Presse hatte seinen Anfang genommen.)"

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